Stand der Technik? Regeln der Technik?
Immer wieder kommt es in Verträgen und Leistungsbeschreibungen vor, dass die Einhaltung der allgemein anerkannten Regeln der Technik (kurz: Regeln der Technik) und gleichzeitig des Stands der Technik verlangt oder vereinbart wird. Das dokumentiert, dass ein Bewusstsein nicht vorhanden ist, dass es sich dabei um grundlegend unterschiedliche, sich gegenseitig sogar ausschließende Standards handelt.
Insgesamt gibt es zur globalen Beschreibung der Art der Ausführung und Modernität der zu erbringenden Leistungen im Wesentlichen drei Begriffsstufen, die das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 08.08.1978 definierte. Diese Begrifflichkeit hat sich juristisch inzwischen dauerhaft durchgesetzt.
Dipl.-Ing. Sebastian Heene, Rechtsanwalt + Bauingenieur, Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht
Es besteht ein 3-Stufen-Verhältnis:
- Auf der untersten Stufe sind die anerkannten Regeln der Technik anzusiedeln. Dabei handelt es sich um technische Regeln, die im allgemeinen von der Fachwelt anerkannt sind, auf einem breiten fachlichen Konsens beruhen und sich darüber hinaus in der baufachlichen Praxis über einen längeren Zeitraum als richtig bewährt haben.
- Dynamischer ist der Stand der Technik als zweite Stufe. Dieser definiert ein (unexakt) geringeres Maß an Anerkennung in der Fachwelt und verzichtet auf Langzeiterfahrungen.
- Der Stand von Wissenschaft und Technik hingegen umfasst die neuesten technischen und wissenschaftlichen Erkenntnisse. Er wird nicht durch das gegenwärtig Realisierte und Machbare begrenzt. Darunter fallen auch experimentelle Techniken oder Materialen.
- Heruntergebrochen auf Risiken und Erfahrungen kann man übertragen folgende Vergleiche darstellen:
- Den Regeln der Technik entspricht es, mit dem Zug von München nach Berlin zu fahren. Das mag manchmal unpünktlich sein, aber im Grunde kommt man immer sicher an. Nennenswerte Risiken, dass das insgesamt schief geht, gibt es keine.
- Stand der Technik war es, immer mit der Concorde über den Atlantik zu fliegen. Vermeintlich modern, etwas unbequem und meistens klappte es auch, dass man ankam. Man dachte, die Reise sei sicher, bis ein Unglück die Welt eines Besseren belehrte und man diese Technik als nicht mehr fortsetzbar, da zu risikoreich, ausrangierte.
- Stand von Wissenschaft und Technik ist, dass wir versuchen, eine Sonde auf den Mars zu schicken, um diesen zu erkunden. Dass man irgendwann ankommt, ist noch halbwegs wahrscheinlich. Dass die Landung klappt, ohne dass die gesamte Gerätschaft umfällt, ist schon reiner Zufall. Dass Bilder gesendet werden, kann klappen oder eben auch nicht.
An diesen Beispielen ist ersichtlich, dass sich die drei Stufen technischen Erfahrungswertes grundlegend unterscheiden, ja sogar gegenseitig ausschließen. Es sollte deshalb in allen Formulierungen exakt darauf Wert gelegt werden, was genau Gegenstand der zu erbringenden Leistung sein soll.
Wird nichts explizit vereinbart, ist ungeschrieben der sicherste Standard, also die Einhaltung der anerkannten Regeln der Technik das ungeschriebene Vertragssoll. Dieser sorgt am ehesten für die vom BGB verlangte dauerhafte Funktionsgerechtigkeit.
Der Stand von Wissenschaft und Technik wird bei der Errichtung von Gebäuden für pharmazeutische Betriebe kaum eine Rolle spielen, weil es hier auf die sichere und dauerhafte Funktionsgerechtigkeit ankommt. Bei neu entwickelter Prozesstechnik mag durchaus sein, dass der Stand von Wissenschaft und Technik und die damit verbundenen Risiken wissentlich eingegangen werden, um forschungsmäßige oder produktionsmäßige Vorteile oder Marktvorsprung zu gewinnen. Wegen der erheblichen Risiken muss dann aber vertraglich exakt geklärt werden, wer die Risiken des immer möglichen Fehlschlagens zu tragen hat. Dieses Risiko wird in der Regel auf den Auftraggeber/Bauherrn abgewälzt werden müssen, der eine solche risikobehaftete Bauweise oder Maschinerie wissentlich bestellt.
Ähnlich sieht es mit der Einhaltung des Stands der Technik aus. Auch hier besteht ein höheres Fehlschlagensrisiko als bei Einhaltung der Regeln der Technik. Dennoch wird die Einhaltung und Anforderung des Stands der Technik jedenfalls bei Anlagentechnik im Pharmabau eher die Regel als die Ausnahme sein. Auch hier ist deshalb vertraglich exakt für eine Risikoübernahme durch den Bauherrn zu sorgen. Denn erschwerend kommt hinzu, dass auch die Berufshaftpflichtversicherungen von Planern verlangen, dass grundsätzlich die allgemein anerkannten Regeln der Technik eingehalten werden. Eine vorsätzliche Abweichung davon gilt als sog. wissentlicher Pflichtverstoß gegen die Regularien der Berufshaftpflichtversicherung, mit der Konsequenz, dass der Versicherungsschutz des Planers dann verloren geht.
Wichtig ist es jedenfalls, ein großes Problembewusstsein dafür zu entwickeln, genau festzulegen, welche technischen Standards Gegenstand der Vereinbarung sind. Dazu gehört exaktes Lesen der Verträge, genaue Definition der errichtenden Bauwerke oder zu errichtender Anlagen, aber auch eindeutige Klärung, wer das Risiko zufälligen Fehlschlagens trägt, falls von den allgemein anerkannten Regeln der Technik abgewichen werden soll. Ohne eine solche eindeutige Regelung trägt das Risiko gemäß der werkvertraglichen Risikoverteilung stets der Lieferant und/oder der Planer.
Dipl.-Ing. Sebastian Heene, Rechtsanwalt + Bauingenieur
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